Ich pflege gern ein Leben fernab aller Ideologien. Gott sei Dank spüre ich kein Bedürfnis danach, meine Sicht auf die Welt in ein einfaches Schema zu fassen. Stattdessen ertrage ich bisweilen meine Orientierungslosigkeit und arbeite beständig an meinem Verständnis der Welt.
Auch inhaltlich finde ich mich in den gängigen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts nicht wieder. Ob Liberalismus, Kommunismus, Anarchismus oder Kapitalismus: Alle diese Denkschulen wirken auf mich zu starr und dogmatisch. Sie definieren sich vor allem durch ein Schwarz-Weiß-Denken und durch die paranoide Abgrenzung zu den anderen Ideologien. Dies sind wohl auch die Gründe, warum in ideologisierten Gesellschaftssystemen Andersdenkende diskriminiert, ausgegrenzt und verfolgt werden. Sich nicht zu den vorgegebenen Normen einer Ideologie zu bekennen, heißt demnach zwangsläufig auf der schwarzen Seite des Denkens zu stehen und deshalb schädlich für das herrschende System zu sein.
Trotz allem haben alle diese ideologischen Denkschulen etwas gemeinsam. Sie versuchen das gesellschaftliche Leben in Bahnen zu lenken und die Triebkräfte der Menschen modellhaft zu erfassen. Es handelt sich also um Modellannahmen über den Menschen und die Gesellschaft. Die meisten dieser Modelle haben sich als unbrauchbar erwiesen. Zum Beispiel wird das häufig über den Kommunismus gesagt. Aber was genau bedeutet das als Konsequenz? Sollten wir unsere Bestrebungen einstellen, wenn unser Modell zu kurz greift?
Nein! Wir sollten einfach aus unseren Erfahrungen lernen, d.h. unsere bisher gewonnenen Erkenntnisse zur Weiterentwicklung der Modelle nutzen. Es ist in der Wissenschaft ein gängiger Prozess mit simplen Modellen zu beginnen und ihre jeweiligen besten Eigenschaften in komplexeren Modellen zu kombinieren. So lässt sich Fortschritt erzielen. Häufig braucht es gar nicht mal sehr viele Iterationen, um zu einem tragfähigen Modell zu kommen.
Die Zusammenhänge über unser Zusammenleben sind komplex. Das heißt aber nicht, dass es prinzipiell unmöglich wäre gute Modelle dafür zu entwickeln, die uns bei anstehenden gesellschaftlichen Entscheidungen Orientierung bieten können. Ein Modell muss nicht alles erklären können, um nützlich zu sein. Es muss nur ausreichend gut sein und so weit waren wir mit den bisherigen Ideologien nicht. Es braucht noch viele weitere Überlegungen. Und der Punkt ist: Es braucht sie! Es wäre keine Lösung auf Ideologien als Orientierungshilfe zu verzichten. Das mag für den Einzelnen zwar möglich sein, aber nicht für die Organisation der Gesellschaft als Ganzes, weil viele Menschen nach einfachen Prinzipien streben.
Im philosophischen Radio ging es kürzlich um Konvivialismus – auch eine Form von Ideologie, aber eine viel breiter aufgestellte, die sich anschickt das Beste aus den bisher gewonnenen Erkenntnissen herauszulösen und für die das menschliche Miteinander im Vordergrund steht. Ich kann mich erstaunlich gut in den konvivialistischen Grundsätzen, die im Radiobeitrag beschrieben wurden, wiederfinden. Gesetzt den Fall es braucht Ideologien, dann lohnt es sich auch mal dieses Konzept zu betrachten. Mein erster Eindruck ist, dass der Konvivialismus meiner bisherigen Art über Wirtschaft zu denken einen Rahmen und einen Namen gibt. Das macht es vielleicht leichter Gleichgesinnte zu identifizieren, um zu kooperieren. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich schreibe mehr und mehr Artikel auf meinem Smartphone, deshalb bitte ich darum kleinere Fehler zu ignorieren.
marien86
Oktober 19, 2014 at 5:42 pm
Hallo tinyentropy,
danke für den interessanten Artikel.
Natürlich ist es immer falsch, ausschließlich die „(r)eine Lehre“ zu vertreten. Es ist aber auch ein Fehler gar kein Ideal mehr zu vertreten, sich rein auf pragmatische Dinge zu fokussieren. Es soll Aufgabe der Politik (im weit gefassten Sinne) sein, Arrangements zu Konflikten zu treffen. Denn Konflikte werden nicht absolut gelöst. Die Lösungen sind zeitlich und örtlich begrenzt. Die betroffenen Akteure einigen (arrangieren) sich auf einen Kompromiss.
Eine Gesellschaft braucht Schwarz und Weiß. Im Prozess der Politik soll eine grau-melierte Fläche entstehen, welche die Gesellschaft (zeitlich und örtlich) abbildet.
Schwarz und Weiß, das ist der politische Raum, der Ort wo Emotionen, unhinterfragte Werte und Normen aufeinandertreffen. Prozesse der Politik (nicht zu verwechseln mit o. g. „dem Politischen“) sollen die Emotionen, unhinterfragte Werte und Normen ordnen und verarbeiten.
Es ist schick geworden zu sagen, man sei nicht mehr links oder rechts. Man möchte sich nicht mehr festlegen. Man möchte sich selbst relativieren. Das bietet für andere möglichst wenig Angriffsfläche. Wie sollen noch die Konflikte unserer Zeit ausgetragen werden, wenn die Leute sich alle in die Mitte stellen und nur noch Rosinen picken?
„Von allem das Beste“, dass unterstellt, das es das Beste überhaupt gibt. Für Naturwissenschaftler, die Optima präzise und objektiv bestimmen können und müssen, ist eine solche Arbeitsweise notwendig.
Weil aber im sozialen und politischen Raum Erfahrungen (und deren Wirkungen auf die Menschen) nur begrenzt gültig sind, kommen wir mit Optimierungsprozessen nicht weit. Denn was optimal ist, ist sozial konstruiert. Was sozial konstruiert ist objektiv nicht (immer) optimal.
Auch wenn ich meine Links-Alternativen bzw. neoliberalen Kommilitonen kritisiere, ihr Input, ihre polare Entgegensetzung ermöglicht mir es, erst meine Kritik des Mittelmaßes zu formulieren.
Das Mittelmaß ist eben nicht von allem das Beste. Es braucht eine Polarisierung um zu bestimmen wo die Mitte ist, was eigentlich nur unhinterfragte Behauptungen sind.
Der politische Raum der „klaren Kante und Ideologie“ ist notwendig und eben nicht überflüssig. Die Schrecken des 19. und 20. Jahrhunderts, deren Ideologien, waren wohl leider notwendig. Nur durch sie wissen wir das es eine Mitte braucht und das wir alle Gefahr laufen (in die eine oder andere Richtung) abzugleiten.
Im übrigen sind auch auch wissenschaftliche Modelle so konstruiert, das Level an Komplexität minimal ist. Auch kann man völlig gegenteilige Modelle zum Testen verwenden. Die so entstehende Differenz gibt einem die nötigen Hinweise wo das „passende“ Modell liegen könnte.
Aber das weißt du als Emperiker eh besser als ich. Ich bin ja nur Sozialwissenschaftler 🙂
Gruß, David
tinyentropy
Oktober 19, 2014 at 5:59 pm
Dieses eine mal verstehe ich leider nicht, worauf Du hinaus zielst 😉 Ich habe doch bereits geschrieben, dass ich für mich selbst Ideologien vermeiden möchte, sie aber im großen und ganzen schon für wichtig halte. Und was die Optimierung betrifft, glaube ich Dir nicht so recht, dass es in den Sozialwissenschaften nicht möglich sein sollte Erfahrungswerte in bessere Herangehensweisen umzusetzen. Was bleibt uns denn anderes übrig als aus der Geschichte zu lernen, als Natur- wie auch Geisteswissenschaftler.
marien86
November 1, 2014 at 5:05 pm
Ich sage ja nicht, das Erfahrungswissen Quatsch ist (im Gegenteil!) Nur: menschliches Handeln geschieht eben nicht nach Schema F. Menschen arbeiten keine Programme ab. Ich würde hier den Begriff „Lernen“ durch „Arrangieren“ ersetzen. Sozial- und Geisteswissenschaftler zeigen durch ihre Arbeiten auf, wie man die Gesellschaft neu arrangieren kann.
Wir können uns aus der Geschichte gescheiterte Arrangements anschauen. Und wir können diese und müssen diese von Zeit zu Zeit neu interpretieren.
Ich wundere mich oft, wie geschickt, die Kollegen Philosophen Banalitäten wortreich verpacken können. (wie im verlinkten Beitrag)
Eines musst du mir erklären tinentropy: wie kannst du Ideologien wichtig nehmen und sie gleichzeitig vermeiden? Das ist doch ein Widerspruch, oder? Indem wir pragmatisch mit Ideologien umgehen, schaffen wir eine nötige Distanz zu ihnen. Es geht hier nicht um vermeiden sondern um distanzieren. (OK, jetzt hab ich die Antwort vorweg genommen 🙂
Gruß, David
Nesselsetzer
Oktober 19, 2014 at 6:53 pm
Trotz meiner heftigen Abneigung gegenüber philosophischen Sendungen (wegen zu vieler lauwarm zelebrierter Luftblasen 😉 ) habe ich mir den Beitrag angehört. Wenn man die verschwafelten Hörerbeiträge weglässt (scnr) bleibt ein ziemlich kompaktes Gespräch übrig, dass allerdings nicht allzu viel neues bringt. Das Problem des Wirtschaftswachstums ist ein altes, die Veränderung der Gesellschaft hin zum Teilen zumindest bisher in Sachen digitale Informationen schon in vollem Gange, über den Mindestlohn wird immer wieder diskutiert. Richtig ist, dass die beiden letzten Punkte eine Menge Kreativität freisetzen (würden). Dennoch finde ich die Denkansätze in jedem Falle nicht schlecht. Die Forderung nach einem Maximallohn ist zwar etwas ungewöhnlich, erinnert mich aber an Star Trek, in deren Philosophie es ja gar kein Geld mehr gibt. Wozu braucht man bei einem gedachten Maximallohn überhaupt noch ein Zahlungsmittel?
Das Problem bei jeder Art von ideologie ist jedoch, dass sie formuliert nur eine gewisse Zeit lang funktioniert und dann zusammenbricht, und zwar deshalb, weil der Mensch sich innerhalb gleichbleibender gesellschaftlicher Vorgaben stets verändert und aus jeder Gesellschaftsform herauswächst, teils verbunden mit heftigen humanitären Rückschlägen.
Insofern würde ich das konvivialistische Manifest eher als Lösungsvorschläge für die auf uns zukommenden drängenden Probleme einordnen und nicht so sehr als eine Ideologie. Allerdings habe ich jetzt nur den Beitrag gehört und nicht das Manifest gelesen.
tinyentropy
Oktober 19, 2014 at 7:09 pm
Ja. Man müsste auch das Manifest mal lesen. (Und: Die Beiträge der Zuhörer waren dieses mal auch besonders marginal) Über die Frage, was ein Maximallohn für die Sinnhaftigkeit von Zahlungsmitteln bedeutet, muss ich aber noch mal nachdenken.
marien86
November 1, 2014 at 5:23 pm
Ist es nicht das Problem (fast) jeden menschlichen Handelns, dass es nur zeitlich und örtlich legitimiert ist? Gewalt gegen Frauen und andere Menschen ist hier zulande sowohl illegal als illegitm. Das ist nicht überall so. Das war nie überall so.
apropos Star Trek: ich denke das Problem sind nicht die Produktionskosten von Waren und Dienstleistungen. Selbst in einer Welt wo Waren und Dienstleistungen nichts kosten, wird versucht werden, dass Waren und Dienstleistungen „kostbar“ gemacht werden. Viele Menschen sehen Waren und Dienstleistungen als etwas an, wo sie sich unterscheidbar machen (Markenprodukte, Statussymbole)
Und genau dies scheint mir der rote Pfaden unserer menschlichen Geschichte: sie ist eine Geschichte der Destinktion. Konflikte um Rohstoffe und Macht entstehen, weil bestimmte Gruppe meinen, sie müssten sich deutlich von anderen unterscheiden. Der unterschiedliche Zugang zu Rohstoffen markiert diese soziale Unterscheidung
Gruß, David