Immer wieder liest man in der Presse davon, dass grosse Konzerne die Löhne drücken und Menschen hier und in anderen Ländern unter unwürdigen Bedingungen für sich produzieren lassen. Darauf angesprochen wiegeln die Pressesprecher der Firmen erst einmal ab. Wenn dann die Beweislast zu drückend wird, kommt oft folgendes Argument: Die Kunden würden nun mal günstige Preise erwarten und in diesem Interesse der Kunden müsste knallhart kalkuliert werden. Dieser Umstand zwinge die Firmen nahe am Rande des moralisch Zulässigen zu wirtschaften. Kurzum, Schuld sei eigentlich der Kunde.
Und das stimmt auch. Denn wir wollen möglichst wenig zahlen und interessieren uns meist nicht für die Produktionsbedingungen. Aber wenn wir darauf angesprochen werden, dann antworten die meisten, dass uns die Arbeiter am Herzen liegen und wir dazu bereit seien mehr zu zahlen, wenn es ihnen dadurch besser ginge. Aber leider würden wir ja keinen Einblick in die Produktionsbedingungen der Firmen bekommen und könnten uns daher nicht anders verhalten als dem Konzern zu glauben, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Jeder schiebt also die Schuld auf den anderen und nichts passiert. Man könnte dieses Problem durch mehr Transparenz der Produktionsbedingungen lösen. Dazu ein Gedankenexperiment.
Angenommen, es würde staatlich verfügt, dass jedes Produkt in einer Variante auf den Markt gebracht werden muss, bei deren Herstellung Fairness gegenüber allen Beteiligten sichergestellt ist. Dies wird von unabhängigen Zertifizierungsstellen überprüft. Zur Fairness gehören gute Löhne für die Arbeiter, Umwelt schonende Prozesse und Chemikalien bei der Produktion und ein Preis des Produkts, der diesen höheren Aufwand angemessen widerspiegelt und nicht künstlich überhöht ist. Dies ist nur ein hypothetisches Modell, denn die Umsetzung würde einen immensen bürokratischen Aufwand bedeuten.
Neben dieser Variante kann es zusätzlich billigere Varianten geben, bei denen aber implizit klar wäre, dass die hohen moralischen Standards in irgendeinem Aspekt auf der Strecke geblieben sein müssen. Dieser Punkt ist sehr wichtig. Kauft man diese Variante ist einem klar, dass die Produktionsbedingungen fraglich sind, sonst hätte die Ware das andere Siegel erhalten.
Es klingt erst einmal verrückt sich vorzustellen, dass es ein und dasselbe Produkt in zwei Varianten geben sollte. Aber Amazon demonstriert das Angebot verschiedener Produktvarianten mit ihrem neuen Konzept der Stress-freien Verpackungen. Es ist also nicht so abwegig.
Der Gag an diesem Gedankenspiel ist, dass wir also in einem Einkaufshaus vor zwei (scheinbar) identischen Jeans stünden, von denen eine mit einem Siegel versehen und z.B. doppelt so teuer wie die andere Jeans wäre. (Wie hoch der preisliche Aufschlag tatsächlich wäre, ist natürlich besonders interessant!) Und nun kann sich jeder selbst fragen, wie würde man sich entscheiden? Vor diesem Hintergrund fallen nämlich für den Kunden alle potentiellen Ausreden weg. Es reduziert sich auf die Frage, was ist mir die Nachhaltigkeit wert? Wahrscheinlich würden die meisten Menschen ihre Einkäufe mischen und nur ab und zu faire Produkte einkaufen.
Richtig wäre es aber, dann auf bestimmte Einkäufe zu verzichten, wenn die faire Variante zu teuer erscheint. Denn nur so wären die Firmen gezwungen die Preise für faire Produkte zu senken, indem sie auf ihre hohen Gewinnmargen, wie bei Designerlabel-Jeans üblich, verzichteten.
Aber, das ganze würde natürlich nicht wirklich etwas bringen. Denn wir wissen ja: „Wir wollen möglichst wenig zahlen und interessieren uns meist nicht für die Produktionsbedingungen.“. Nur, gäbe es dieses Modell der Preisgestaltung wären wir gezwungen Farbe zu bekennen und bei jeder Kaufentscheidung mit unserem Gewissen zu hadern. Das wäre ganz schön anstregend. Und wie gehen wir damit um, dass wir 800 Euro für das Handy ausgeben, unser bester Freund aber nur 650!? Ebenfalls eine interessante Frage 🙂
mechentel
August 24, 2012 at 11:48 am
Diesen folgenden Satz, umgemünzt auf den Fleischkonsum, wobei FLEICH auch Wurst, Geflügel, Fisch, Meeresfrüchte und alle Tiere IST, die teilweise lebend zerstückelt oder mit heissem Wasser übergossen werden, könnte man auch so schreiben:
“ …Und das stimmt auch. Denn WIR wollen möglichst wenig zahlen und interessieren uns meist NICHT für die Produktionsbedingungen. Aber wenn wir darauf angesprochen werden, dann antworten die meisten, dass uns die TIERRE am Herzen liegen – und wir ja sowieso nur sehr wenig Fleisch essen – und wir dazu bereit seien mehr zu zahlen, wenn es ihnen – also den TIEREN – dadurch besser ginge. Aber leider würden wir ja keinen Einblick in die Produktionsbedingungen der Firmen bekommen und könnten uns daher nicht anders verhalten als dem Konzern zu glauben, dass alles mit rechten Dingen zugeht.“
Hier wie auch dort – also in der Textilindustrie – gibt es sehr wohl diese zwei Prodktschienen. Ökokleidung und Ökofleisch sowei Disconter-Textilien und Discounter-Fleisch.
Gibt es da denn einen Unterschied im Verhalten der Konsumenten????????
tinyentropy
August 24, 2012 at 12:56 pm
Richtig, aber meistens gibt es separate Biomarken. Käufer deren Herz an einer Marke hängt, wollen nicht zur Firma, die die Biomarke produziert, wechseln.
Und momentan, d.h. in der Realität, ist „Bio“ noch das Besondere. In meinem Modell wäre die Ware ohne Siegel das Besondere, weil man da weiss, dass sie nicht fair produziert wurde.
thymi
August 24, 2012 at 12:02 pm
Hallo tinyentropy,
das Konzept der streßfreien Verpackungen kannte ich bisher nicht, und ich bedanke mich für die Information. Ich werde es in Zukunft gern nutzen.
Allerdings bin ich vielleicht nicht der ganz und gar richtige Ansprechpartner, da ich auch bisher schon ganz gern alles „ein bißchen kleiner“ gemocht habe. Mein Handy z.B. ist erst das zweite seit ca. 15 Jahren, und es hat weit unter 8oo € gekostet (und war gebraucht übernommen von meinem Mann).
Meine Jeans sind Levis, aber am Label hängt mein Herz nicht, sondern an der Paßform 😉
Wenn man sich korrekt verhalten will, dabei aber trotzdem halbwegs sparsam und praktikabel, braucht man für die einzelnen Artikel mehr Informationen. Und entscheidet dann von Fall zu Fall.
Liebe Grüße, Thymi
marien86
August 24, 2012 at 3:43 pm
Hallo tinyentropy,
du weißt ja mittlerweile, dass hier in die selbe Kerbe schlage. Deshalb kommt hier mal eine andere Sichtweise: Das Problem ist doch eigentlich gar nicht die mangelnde Intransperenz. Jeder der möchte, kann Information zum Thema Nachhaltigkeit und „angemessenem“ Konsum recherchieren. Dem Internet sei Dank, kommt man hier schnell weiter.
Nur, wenn wir über genügend Information verfügen, müssen wir uns über etwaige Konsum(fehl)verhalten Gedanken machen. Das, was wir vielleicht geahnt haben bekommen wir schwarz auf weiß, wir müssen uns in Frage stellen. In einer Gesellschaft, wo das Individuum gespiegelt bekommt, dass es häufig richtige Entscheidungen trifft (Konsum, Politik, Medien) fällt das „Infragestellen“ schwer.
Es geht meiner Ansicht gar nicht um „Geiz ist Geil“ sondern um „individuelle Nutzenmaximierung ist Geil“ Warum sollten wir Nutzen stiften, vom dem fremde Menschen profitieren? Diese zynische Frage ist wichtig in der Volkswirtschaftslehre. Erhöht Solidarität das individuelle Nutzenneveau, kann man dies in konkreten Konsum übertragen?
Wir haben neben einem psychlogischen Problem, was eher verdeckt besteht auch ein sehr praktisches ökonomisches Problem: Fairness bietet leider nicht immer den Mehrwert, den man als angemessen empfindet.
Wohlfahrtsgewinn wird genau durch diesen Effekt gemindert. Dazu kommt: Nachhaltigkeit betrifft große Zeiträume. Wenn man Kinder und Enkel einrechnet, dann kann man 100 Jahre überblicken. Alles, was darüber hinaus läuft, ist gar nicht mehr fassbar. Zumal wenn es die Kinder besser haben sollen als man selbst, stellt sich wieder die Verteilungsfrage: sind nur meine oder alle Kinder gemeint? Soll Jemand mit niedrigen Einkommen wirklich überdurchschnittlich viel für nachhaltige Produkte ausgeben? (Was ja dann zwingend so wäre) Was ist mit den Leuten mit überdurchschnittlichen Einkommen, die würden vergleichsweise übervorteilt bei deinem Gedankenexperiment. Und: wir hatten Deutschland mal ne Textilindustrie. Wäre es wegen der Nachhaltigkeit nicht viel sinnvoller, Kleidung in Deutschland produzieren zu lassen? Oder Fernseher, (mehr) Autos, Haushaltsgeräte etc etc. Da sind wir dann wieder bei der Verteilungsfrage (von Produktionstätten).
Ich sehe, abschließend betrachtet, einige offene Fragen: wie viele können sich (auch nur homöopatische wenige) nachhaltige Produkte leisten? Ist evtl. enstehender psychischer Druck hier legitim? (Ich kann/will mir dass nicht leisten, darf ich gesellschaftlich diskriminiert werden?) Wäre es aus ökologischer und wirtschaftlicher Sicht nicht besser, wieder mehr Produkte im eigenen Land zu produzieren? Wäre es gerechtfertigt Produktionsstätten in Schwellenländern (mit den Jobs) abzuziehen, wenn es denn der Nachhaltigkeit dient? Was sind die Maßstäbe von fairer, nachhaltiger Produktion? Sind es die der dt. Gewerkschaften? Wenn nein, wie lässt sich dies vor dem Hintergrund von Fairness und Nachhaltigkeit legitimieren? Und eine banale aber wichtige Frage: was bringt uns die Erkenntnis, wie viel Nachhaltigkeit denn nun wert sei? Können wir dies nicht heute schon einigermaßen sicher messen?
Gruß, David Marien
tinyentropy
August 24, 2012 at 5:13 pm
Hallo David,
vielen Dank für Deine andere Sichtweise! Und schön von Dir zu hören.
Transparenz würde es letztendlich auch den Firmen ermöglichen bessere Arbeitsbedingungen zu bieten (und z.B. Arbeitsplätze in Deutschland bestehen zu lassen), denn die Konsumenten müssten ja einen den besseren Umständen entsprechenden Preis für die Waren zahlen. Nun ja, aber ein faires Gehalt in Bangladesch liegt natürlich weit unterhalb eines entsprechenden Gehalts hier, weil die Lebensumstände andere sind. Insofern würden wohl kaum Arbeitsplätze in Deutschland dadurch erhalten bleiben. Aber immerhin. In Bangladesch würden die Leute besser bezahlt und die Konsumenten tragen dies finanziell mit.
Ich stimme absolut zu, dass das für die Menschen einen psychologischen Druck, vielleicht sogar Stress, beim Einkaufen erzeugen würde. Und vielleicht muss man sich rechtfertigen vor anderen. Das sind aber gerade die psychologisch interessanten Aspekte daran.
Eine Tatsache bleibt aber immer bestehen. So lange wir für die Güter keine fairen Preise zahlen, müsste die Losung Verzicht heissen. Denn da wir trotz unfairer Preise immer so viel wie möglich konsumieren, leben wir dabei über unsere Verhältnisse.
Ich weise nicht mit dem Finger auf andere. Ich mache es ja selbst nicht besser. Aber ich bin der Meinung, dass man diese Dinge immer wieder diskutieren muss, damit sich überall stückweise kontinuierlich etwas verbessert, weil wir alle mehr auf die Dinge achtgeben.
Liebe Grüsse
marien86
August 24, 2012 at 6:15 pm
Hallo tinyentropy,
das Wort „fair“ ist dahingehend problematisch, als dass in einer Welt mit vielen Gegensätzen fair nicht einfach eine Mitte zwischen den Gegensätzen darstellt. Wir haben schon in Deutschland das Problem zu definieren welcher Lohn fair ist. Wir sind uns sicher einig, dass sich die Lebensverhältnisse vieler Menschen ändern müssen. Und wir sind uns auch einig, dass das Individuum eine wichtige Rolle spielt.
Man kann darüber diskutieren, ob dein Gedankenmodell einen Beitrag zum gesellschaftlichen Wertewandel leistet. Ich befürchte, dass die Leute, die heute schon wegen ihrem geringen Gehalt diskriminiert werden, noch weiteren Druck spüren werden. Es wird noch offensichtlicher, wer sich was leisten kann. Willst du in Geschäften wirklich den zwei-Klassenkonsum so offensichtlich haben?
Anstatt Konflikte in die Kaufhäuser zu verlagern, sollten wir sie in die Denkstuben bringen. Dass es keine fairen Preise gibt liegt u. a. anderem ja auch an der Propagierung einer bestimmten Denkrichtung der VWL. Anstatt über Import-, Exportquoten zu debattieren, sollte man drüber nachdenken wie man Arbeitsteilung wirklich vorteilhaft gestaltet. Anstatt zu deregulieren sollte man über globale Standards entscheiden. Wenn der Staat, in deinem Modell eh schon Siegel ausstellt, warum dann nicht für alle? Warum nimmst du potentielle Diskriminierung breiter Massen in Kauf, wenn es der eigentlich nur um die Disziplinierung bestimmter Gruppen geht?
Sorry, wenn ich das so offen sage, deine Idee ist Bullshit, weil die Gefahr besteht, dass die falschen getroffen werden. Die Staaten sollen ihre Ressourcen gefälligst nutzen, um allgemeinverbindliche Standards einzuführen. Gesellschaften müssen sich über Mindeststandards einig werden Punkt.
Die Intention ist ehrenwert, die potentiellen (Neben)folgen sind inakzeptabel.
Gruß, David Marien
tinyentropy
August 24, 2012 at 6:31 pm
Ja, es könnte sich diskrimierend gegenüber den Ärmeren auswirken. Das ist natürlich nicht meine Absicht. Ich erwarte von einem Hartz IV Empfänger nicht, dass er mehr Geld ausgibt.
Dennoch hinkt Deine Argumentation: Weil es den Menschen hier schlecht geht, rechtfertigt das, dass sie auf Kosten anderer Menschen in anderen Ländern leben? Das kann es auch nicht sein.
In Wahrheit wäre es die Schuld der Menschen, die Hartz IV Empfängern Vorwürfe machen oder ihre Kaufentscheidung mit der Verhaltensweise von Ärmeren begründen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Wenn es zu Schuldzuweisungen in der Gesellschaft käme, wäre das ein anderes Problem.
Die Preise von denen ich spreche sind Realpreise, d.h. sie werdem so festgesetzt, dass sie den tatsächlichen Kosten + der üblichen Gewinnmarge entsprechen. Es gibt nicht viele Argumente dagegen diesen Preis zu zahlen, weil er unverhandelbar ist.
Wenn sich manche Menschen in einer Gesellschaft das dann nicht leisten kann, zeigt das nur die anderen Probleme der Gesellschaft.