Die Astronomie vermag es die Entstehungsgeschichte von Sternen zu erklären, doch unsere Erklärungsmodelle für biologische Systeme bringen uns sehr oft an die Grenzen der Berechenbarkeit. Ein interessanter Vergleich zwischen Physik und Biologie.
Es fängt schon mit dem Mysterium des Lebens an. Es fällt uns schwer zu definieren, was ein belebtes Wesen ausmacht. Viren haben sehr mächtige Evolutionsstrategien. Da sie sich aber ausserhalb von Zellen und ohne Nutzung von deren Zellmaschinerie nicht vermehren können, gelten sie nicht als Lebewesen. Aber dies bleibt eine heikle Definition. In der Biologie müssen wir immer wieder Regeln mit Ausnahmen definieren. Es scheint in der Natur immer eine Bandbreite an Phänomen zu geben. Deshalb eignen sich Wahrscheinlichkeitsmodelle zur Beschreibung von biologischen Phänomen gut. In der Physik, mit Ausnahme der Quantenphysik, haben wir es eher mit Naturkonstanten (Lichtgeschwindigkeit) zu tun und können klare mathematische Regeln definieren.
Einige weitere Beispiele. Wir können heutzutage mathematische Modelle spezifizieren, um das Wetter vorherzusagen oder die Entstehungsgeschichte unseres Universums im Computer zu simulieren. Albert Einstein lieferte mit der Relativitätstheorie detaillierte Formeln, um die Phänome Raum, Zeit und Gravitation beschreiben zu können und am CERN wurde kürzlich wieder ein Elementarteilchen entdeckt, welches unglaublich klein ist und dessen Detektion hoch-komplexe Messungen voraussetzt. Dies sind erstaunliche Ergebnisse.
Auf der anderen Seite stehen biologische Phänomene, die uns immer wieder vor Erkenntnisprobleme stellen. Wodurch werden Erkrankungen wie Multiple Sklerose verursacht? Durch welche genetischen Faktoren wird Dickleibigkeit hervorgerufen?
Auch unsere Computermodelle stossen schnell an Grenzen. Es ist immer noch nicht möglich die exakten Faltungskonfigurationen von Proteinen vorherzusagen, weil wir die energetischen Randbedingungen nicht präzise genug erfassen bzw. berechnen können. Es ist zwar möglich, Vorhersagen zu machen. Aber diese sind verhältnismäßig grob und ungenau.
Auch wenn man die Forschungsgeschichte rund um das Bakterium Escherichia coli K12 betrachtet, die weit mehr als 50 Jahre andauert, erkennt man die Unzulänglichkeiten unseres Wissens. Im Jahre 1997 wurde die DNA entschlüsselt. Seitdem hat es unzählige Publikationen zu dem berühmtesten Modellorganismus der Genetik gegeben. Und doch können wir heutzutage für ca. 20% der in E. coli vermuteten Gene keine Funktionen angeben. Die Funktion vieler anderer Gene ist uns nur rudimentär bekannt, z.B., dass sie in einer Membran vorkommen, aber nicht, was sie dort machen. Kurzum, wir wissen bereits eine Menge über E. coli, aber bestimmte Aspekte, vor allem das Zusammenspiel einiger Proteine, bleiben uns noch immer unerklärlich.
Der Schlüssel zu der Komplexität der Biologie liegt in dem Aufbau der Materie und der innovativen, enorm schöpferischen Kraft der Evolution.
Wenn man sich das Periodensystem der chemischen Elemente anschaut, erkennt man darin die Ordnung eines Baukastens. Die Elemente lassen sich nach ihren Eigenschaften sortieren und systematisch strukturieren.
Durch die chemische Verknüpfbarkeit der einfachen Elemente entstehen in der Natur beinahe unendliche Kombinationsmöglichkeiten zu komplexeren Molekülen, welche sich wiederum in vielfältiger Weise in funktionellen Netzwerken organisieren können, zum Beispiel als Grundlage unserer Zellen und unseres Organismus.
Die Bedeutung der Evolution liegt darin, dass sie ein sehr effektiver Mechanismus ist, um Pfade durch diese Kombinationsvielfalt auszutesten. Das Ergebnis sind vielfältige biologische Systeme, die unglaublich komplex sind.
Interstellare Bedingungen im Weltall werden hingegen massgeblich durch die chemischen Elemente bestimmt und deren so genannte anorganische Chemie folgt gewissermassen einfachen, besser zu erfassenden Regeln.
So erkläre ich mir die Diskrepanz zwischen der Erkenntnisfähigkeit von Physik und Biologie.
marien86
August 4, 2012 at 4:20 pm
Hallo tinyentropy,
ich stoße mich in deinem Beitrag an der Aussage, dass die Evolution eine enorm schöpferische Kraft habe. Die unzähligen chemisch/physikalischen Prozesse außerhalb der Biologie gestalten doch auch unsere Umwelt.
Natürlich haben sich durch bestimmte Prozesse Filterungsprozesse gebildet, die wir „Evolution“ nennen, ist sie aber schöpferischer oder rechenintensiver als die Physik? Die Computer am CERN werden ständig mit komplexen Daten gefüllt. Simple Modelle werden dahingehend überprüft, ob sie die Realität hinreichend beschreiben können. Satelliten, Sternenwarten tragen mit ihren Daten zu diesem Realitätsscheck bei.
Auch wenn es in der einen oder anderen Wissenschaft mehr Modelle gibt die „simpel“ sind. An der Realität arbeiten sich alle Wissenschaften gleichermaßen ab. Der Erkenntnisgewinn und dessen Detailtiefe richten sich an der Wirklichkeit aus, Modelle geben uns nur Hinweise, wie die Realität sein könnte.
Die Wirklichkeit da draußen übersteigt nun mal unsere intellektuellen Fähigkeiten. Gut, Einsteins Relativitätstheorie hat Newton erweitert, wir können heute Wetterereignisse mit höherer Wahrscheinlichkeit voraussagen aber: Einstein, Wettervorhersagen und das Standard-Teilchenmodell sind genauso erweiterbar wie Aussagen zu Krankheitsbildern oder gesellschaftlichen Entwicklungen.
Die Mendelschen Gesetze bieten Erklärungsmodelle, wie sie Newton bietet, genauso wie die Quantenphysik oder die moderne Genetik. Einfachere Regeln, mehr Konstanten, erklären die Welt eben nicht besser sondern „gröber“. Vielleicht ist die Physik wie ein Sandboden, wo man sich leicht durchgraben kann, dann erst kommt der Granit. In der Biologie stößt man schneller auf Granit. Wenn man erst mal auf Granit gestoßen ist, interessiert es doch nicht mehr was oben drüber war.
Du kannst und musst halt in allen Wissenschaften irgendwann den großen Meißel auspacken. Ansonsten wäre weder das CERN, noch die Milliarden in die Pharmaforschung, noch der Haufen sozialwissenschaftlicher Statistiken sinnvoll.
Es ist doch gerade die Einfachheit, die viele Dinge komplex werden lässt, eben auch, wenn dein Denken auf Komplexität trainiert ist.
Gruß,
David Marien.
tinyentropy
März 29, 2013 at 10:48 am
Zu diesem Thema passt folgender Beitrag aus der TED Talk Series von dem Evolutionsforschser Richard Hawkins. Er weist darauf hin, dass unser Begriff von der Wirklichkeit stark von unserer evolutionären Evolutionsgeschichte geprägt ist. „Wären wir ein Neutrino mit Neutrino-Vorfahren, dann würden wir Steine und Felsen nicht als feste Dinge sehen.“
Richard Dawkins: Why the universe seems so strange via @TEDiSUB
Es bleibt festzuhalten, dass Konzepte wie die Quantenmechanik für uns kaum begreifbar sind.