Auf Arte lief eine sehr informative Sendung über unser Bewusstsein. Wenn man sich mit der Erforschung der Funktionen unseres Gehirns auseinandersetzt, lernt man schnell, dass die Neurowissenschaften den Mythos unserer seelengebundenen Identität und unseres Freien Willens mehr und mehr infrage stellen.
Das Gehirn erscheint im Licht neuester Erkenntnisse der Forschung „nur noch“ als ein sehr komplexes Organ, dessen Funktionsprinzipien schwieriger zu durchschauen sind, als bei Herz, Leber und Niere. Aber mit modernen bildgebenden Verfahren wie der Kernspintomographie können wir nun endlich tiefere Einblicke in das Geschehen in unseren Gehirnen gewinnen. Die Dokumentation zeigt, wie optimistisch Neurowissenschaftler sind, dass sie das Gehirn in den nächsten Jahrzehnten genauso gut verstehen können werden, wie die anderen Organe.
Und genau daran knüpft sich eine wahre Horrorvorstellung: Ist unsere Identität am Ende nicht viel mehr als ein biologisches Schaltkreissystem, dessen Funktionsweise beliebig von außen gesteuert werden kann? Erleben wir bloß eine Illusion von Eigenständigkeit und Bedeutung für uns selbst und für andere, die keinem höheren Sinn dient, sondern nur ein zufälliges Ergebnis der Aktivitäten eines Organs ist, welches die Natur im Rahmen ihres evolutionären Spiels hervorgebracht hat und auf seine Tauglichkeit des Fortführens der Entwicklung hin testet!? Wie können wir mit der ernüchternden Tatsache umgehen, dass entscheidende Merkmale unseres Charakters, wie zum Beispiel das Empathievermögen, oder unserer inneren Motivation, d.h. unsere Liebesgefühle und unsere sozialen Bedürfnisse, auf strukturelle und funktionale Eigenschaften des Gehirns zurückgeführt werden können, wohingegen wir sie nach klassischer Sichtweise „tief in unserem Innersten, in unserem Herzen“ und der Eigenart unserer Seele vermutet hätten!?
Wenn unsere Vorstellung von uns selbst so entzaubert wird, sollten wir dann die Augen davor verschliessen? Oder müssten wir daraus nicht erst recht die Konsequenz ziehen, dass wir uns unseren Lebenssinn nur selbst geben können? Doch wo bliebe dann die Moral?
Die Arte-Sendung macht eines deutlich. Es kommen wichtige Fragen auf uns als Gesellschaft zu.
marien86
Juli 21, 2012 at 1:45 pm
Hallo tinyentropy,
was hierbei aber gerne verschwiegen wird: Bewusstsein bedeutet Selbstreflektion. Auch wenn nicht alle Entscheidungen bewusst getroffen werden, auch wenn das eigene Erlebte nicht die Realität abbildet, Selbstreflektion bzw. das Hintergrundwissen, um dies zu tun, trägt dazu bei diese Automatismen zu mindestens.
Die Frage nach dem freien Willen lässt sich aber auch ohne medizinisch biologisches Hintergrundwissen nur sehr schwer beantworten, z. B.:
– ein, von der Gesellschaft vermitteltes Demokratieverständnis prägt uns
– wenn wir in gesellschaftliche Interaktion treten, müssen wir deren Spielregeln einhalten, ob wir sie bewusst wahrnehmen oder nicht
– Stereotypen und Modelle werden benötigt um Entscheidungen zu vereinfachen
– wir haben nicht genügend Zeit um alle möglichen Alternativen zu durchdenken
Daraus schließe ich: selbst wenn es einen freien Willen gäbe, seine konsequente Nutzung würde so viel Zeit zur Entscheidungsfindung in Anspruch nehmen, dass gesellschaftliche Interaktion kaum möglich wäre. Aber: Selbstreflektion ermöglicht es uns verinnerlichte Verhaltensformen zu erkennen, zu überprüfen und ggf. anzupassen.
Die Frage, wie unabhängig man in einem System von Abhängigkeiten ist, ist vielleicht gar nicht beantwortbar, weil nicht klar ist was Unabhängigkeit ist. Der freie Wille beginnt in der Erkenntnis, das der Wille unfrei ist. Wenn Aufklärung der Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit ist, wird klar, dass Unmündigkeit existiert, die man minimieren kann. Es geht gar nicht um „entweder oder“ sondern um „sowohl als auch“ (gleichzeitig). Was für Naturwissenschaftler widersprüchlich ist kann im sozialen Leben als „logisch“ betrachtet.
Es kann gar nicht das Ziel sein einen freien Willen anzustreben. Es kann nur Ziel sein zu hinterfragen, ob er frei sein kann. Der Weg ist das Ziel. Nichts mehr und nichts weniger.
Gruß, David Marien
Cicero777
Juli 22, 2012 at 7:13 am
Die Moral eines jeden ist ein erlentes und im Gehirn verwaltetes Gleichgewicht zwischen egoistischen Tendenzen (durchaus triebhaft) und erfahrenen Widerständen. Es ist individuelle und gesellschaftliche Erfahrung, dass ein gutes Leben nur in Gemeinschaft gelingt, daraus entsteht ein Anreiz, die Belange der Mitmenschen zu respektieren. Das steht schon so bei Schopenhauer (Über die Grundlage der Moral) und wurde kürzlich von einem gewissen Andreas Eisenrauch mit den Befunden der Hirnforschung in Beziehung gesetzt worden (Der Einfall und die Freiheit). Das es eine Art Gleichgewicht ist, das in jedem Individuum herrscht und das durch neue Erfahrungen in jede Richtung ausgelenkt werden kann, zeigt sich daran, dass brave Bürger manchmal plötzlich doch Gesetze übertreten und ist die Grunglage aller bemühungen um die Resozialisation von Straftätern.
tinyentropy
November 4, 2012 at 10:56 pm
Und das Analogon über unser Unterbewusstsein:
exvitro
November 5, 2012 at 7:02 pm
Mmh, ich versuche mich diesmal kurz zu halten.
Meiner Meinung nach genau so verhält es sich, wie Sie es beschrieben haben. Es gibt keine Mysterien, das je ne sais quoi was uns so Besonders macht. Wir sind genauso wie alle andere Tiere, Tiere mit einer Wasserstoffbombe und der Mona Lisa.
Und unser Gehirn dementsprechend funktioniert nur um unser Überleben und Fortbestehen zu sichern. Das es nicht ganz perfekt es tut – das beweist eben jene Wasserstoffbombe. Er gibt uns den Evolutionären Vorteil, das wir uns am besten anpassen.