Europa kann sich aus seinen Schuldenproblemen nicht befreien. Stattdessen treiben die Märkte die Politik vor sich her und entziehen europäischen Ländern das Vertrauen, mit der Folge, dass Griechenland, Spanien, Portugal und Italien enorme Zinsaufschläge bei der Kreditaufnahme akzeptieren müssen. Tatsächlich steht Europa derzeit schwach da. Die Wirtschaftsleistung vieler Länder der Eurozone ist unzureichend und die Länder sind hochverschuldet an den Finanzmärkten. Aber, und dies ist der Unterschied zu den USA, Europa bemüht sich darum, die Schulden in den Griff zu bekommen – es muss. Der Druck der Märkte ist kaum auszuhalten. Anders sieht es für die USA aus. Der Dollar wirkt derzeit im Vergleich zu dem Euro als die starke Währung – doch warum? Ist es nicht so, dass die USA gigantisch verschuldet sind?
Ja, so ist es. Obamas Regierung musste in den letzten zwei Jahren mehrmals die offiziell zulässige Höchstgrenze für die öffentlichen Schulden hochsetzen, da andernfalls der Staat zahlungsunfähig geworden wäre. Auch die US-amerikanische Wirtschaftsleistung ist nicht mehr das Gelbe vom Ei. Amerika hat zu viele Jobs nach China ausgelagert.
Der Unterschied zwischen uns und den USA ist meiner Meinung nach nicht das Vertrauen der Märkte, sondern deren Abhängigkeit. Die USA sind so mächtig, dass niemand von ihnen seine offenen Schulden wird einfordern können.
An den USA geht derzeit kein Weg vorbei. Und an Europa? Ich würde dazu ein klares Nein aussprechen. Aber offensichtlich zweifeln unsere Politiker daran. Europa macht sich schwach. Zum Beispiel, indem wichtige Posten wie die Aussenrepräsentantin mit Personen besetzt werden, die niemand kennt.
Der Weg aus der Krise wäre meiner Meinung nach ein selbstbewussteres, rigoroses Auftreten. Europa sollte sich nicht mehr die Richtung von den Märkten diktieren lassen, sondern die Märkte vor vollendete Tatsachen stellen. Rigorose Kontrollen der Finanzakteure. Mit dem Vertrauen, dass derzeit auch kein Weg an Europa vorbeigeht.
Zum Selbst-Bewusstsein gehören zwei Dinge. Selbsterkenntnis zum einen. Europa muss sich all seiner Probleme stellen und deren Lösung durch rigorose Reformen vorantreiben. Andererseits gehört zu einer selbstbewussten Haltung, dass man sich nicht mehr herumschubsen lässt, sondern sich dagegen stellt und mit harten Bandagen den Respekt einfordert. Beide Aspekte lässt Europa in der letzten Konsequenz derzeit vermissen.
Im kleineren Massstab kann man es am Beispiel der schweizer Banken sehen. Deutschland konnte / wollte sich nicht richtig durchsetzen, als es um die Offenlegung deutscher Steuersünder in der Schweiz ging. Die USA haben hingegen die schweizer Banken so massiv in ihrer Existenz angegriffen, dass die schweizer Regierung einlenken musste. Der Vergleich hinkt ein bisschen. Aber im Kern zeigt er, dass ein rigoroses Vorgehen und das Ausnutzen der eigenen Macht dem Finanzsektor klare Grenzen aufweisen kann.
Im Moment verliert Europa zunehmend an Bedeutung. Daher müssen solche Schritte erfolgen, so lange es noch keinen Weg an Europa vorbei gibt. Ich denke, dass ist momentan noch der Fall.
marien86
Juli 17, 2012 at 5:40 pm
Hallo tinyentropy,
ich gebe dir in deinen Forderungen recht, sehe aber eine andere Realität. Die heutigen USA sind das Ergebnis eines 200jährigen Einigungsprozesses inklusive Bürgerkrieg und vielen Rückschlägen. Die EU ist das Ergebnis aus den Bemühungen, einen 3. europäischen Krieg zu verhindern. Die Integration der europäischen Staaten erfolgt in erster Linie aus Friedensbemühungen und erst in zweiter Linie aus ökonomischen Bemühungen.
Die USA teilen eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Wurzel. In Europa gibt es viele Sprachen, viele Wurzeln, viele Bewusstseinsformen. Aus deutscher Sicht mag mehr Europa wünschenswert sein, für viele Briten, Franzosen und Spanier wird es dies sicher nicht sein.
Hinter einem starkem Selbstbewusstsein steckt immer auch eine starke Identität. Aber eine starke gemeinsame Identität verwischt auch Unterschiede.
Klar kann man kritisieren, wenn die Deutschen schlechte Deals mit den Schweizern machen, nur, warst du bei den Deals dabei, kannst du beweisen, das die Bundesregierung ein schlechtes Ergebnis erzielt. Wir wissen nicht welche Asse die Schweizer im Ärmel haben.
Wir stehen in Europa vielleicht an dem Punkt, wo die Amerikaner vor 200 Jahren standen. Entwicklungen laufen bei Menschen häufig asyncron ab. Das bringt Vor- und Nachteile. Nur weil die USA Entscheidungen mit bestimmter Härte durchsetzen, heißt dies nicht, dass diese automatisch besser sind. Stärke und Selbstbewusstsein hebeln nicht die Gesetze der Mathematik aus.
Ich denke, die USA werden wie einst das britische Empire, langsam an Einfluss verlieren. Dies konnte man in der Zeit 1918 – 1945 gut verfolgen. Wir sind jetzt halt im Jahr 1920. Schau was aus dem britischem Selbstbewusstsein geworden ist, die Queen als letzter Rest imperialen Glanzes. Wir werden sehen wo EU, USA und Schwellenländer in fünf Jahren stehen werden. Ich glaube, das unser Standbein, das, verglichen mit den USA und Schwellenländern, das stabilere ist: mehr interner Pluralismus, längere Gesetzgebungsprozesse, einfach ein größerer Kuchen, aus dem man sich bedienen kann.
Gruß, David Marien
tinyentropy
Juli 17, 2012 at 7:18 pm
Hallo David!
Ich freue mich von Dir zu hören! Es ist schön, dass Du immer wieder mit mir in einen Diskurs eintrittst und wichtige Details zu dem, was ich sage ergänzt, bzw. meine Sichtweise kritisch begutachtest. Dafür möchte ich mich einmal bei Dir bedanken. Das tut diesem Blog gut.
Die von Dir geschilderten geschichtlichen Zusammenhänge sind wichtig und erklären natürlich, dass es über die von mir genannten Punkte hinaus viele Unterschiede zwischen der „alten“ und der „neuen“ Welt gibt, welche die Grundlage für das jeweilige Selbstbild begründen. Davon habe ich abstrahiert. Denn ich ziele auf die Bedeutung für die Weltwirtschaft ab und diese ist im Falle Europas derzeitig auch noch recht gross und rechtfertigt mehr Selbstbewusstsein den Märkten gegenüber. Aber die Zukunftsaussichten für Europa sind schlecht und dies muss durch Reformen geändert werden, damit wir auch langfristig glaubhaft erscheinen.
Zum Thema Schweiz frage ich mich, ob Du denn etwas mehr dazu weisst. Es stimmt, ich war nicht dabei. Aber ich mache mir meinen Reim auf das Ergebnis der Verhandlungen.
Lieben Gruss
marien86
Juli 17, 2012 at 11:03 pm
Hallo tinyentropy,
“ Denn ich ziele auf die Bedeutung für die Weltwirtschaft ab und diese ist im Falle Europas derzeitig auch noch recht gross und rechtfertigt mehr Selbstbewusstsein den Märkten gegenüber. Aber die Zukunftsaussichten für Europa sind schlecht und dies muss durch Reformen geändert werden, damit wir auch langfristig glaubhaft erscheinen.“
Das Europa als gemeinsamer Raum gedacht wird haben wir unserer Vergangenheit zu verdanken. Kannst du dir vorstellen das Inder und Pakistani, Israelis und Palästinenser sich innerhalb weniger Jahre zu einem gemeinsamen Wirtschaftsgebiet zusammenschließen? Deutsche und Franzosen haben dies getan, wir standen bis vor wenigen Jahrzehnten auf der selben Stufe wie Inder und Pakistani, Israelis und Palästinenser.
Deine Verkürzung der EU auf ihre wirtschaftliche Stärke verkennt einen wichtigen Punkt: die EU als Raum institutionalisierter Kommunikation. Für gewöhnlich kommunizieren Staaten über Diplomaten in fest abgesteckten Diskursen (Diplomatie). Neben der EU-Diplomatie haben wir die EU-Bürokratie und EU-Juristik (EUGH). Diese erweiterte Kommunikation schafft etwas was das BIP nicht leisten kann, es schafft Verständigung.
Sind die europäischen Staaten fähig zur Reformation, sind die Gesellschaften dazu fähig? Meine Antwort lautet: ja! Schau dir die US-Gesellschaft an, zwei Sammelbecken politischer Meinungen schaffen es immer weniger, die sich pluralisierende Gesellschaft abzubilden. Reformen werden verschleppt, weil es vorgefertigte Bilder gibt: Gesundheitsreform = Kommunismus, Abtreibung = Böse. Die EU-Gesellschaften variieren zwischen postkommunistischen und angelsächsischen Gesellschaften. Was Kommunismus, was gut und böse ist, hat hier eine viel größere Diskussionsgrundlage. Ein Präsident kann hier nicht mal eben irgendwas raushauen.
Ich verstehe deinen Punkt mit dem Selbstbewusstsein nicht ganz. Weil die Amerikaner uns Deutsche demokratisiert und ihre Wirtschaftsform exportiert haben glauben sie, dass sie wissen was gut ist. Gut, sie haben die Bankenaufsicht reguliert, hier und da was geändert. Trotzdem bleibt die US-Infrastruktur, die soziale Ungleichheit dort weiter bestehen. Wie du richtig angemerkt hast, haben die Chinesen nichts davon, auf ihre Forderungen zu bestehen, dafür werden sie sich andere Dinge eintauschen. Die USA haben sich in einen Irakkrieg verwickelt, sind von China abhängig und sind innenpolitisch dabei, sich weiter zu spalten.
Wir haben im EU-Durchschnitt eine geringere soziale Ungleichheit, weniger Abhängigkeit von den Chinesen, Konservative und Sozis in den meisten Staaten stehen hinter der EU. Eine hiesige Tea-Party-Bewegung ist marginal. Wir treten nicht auf wie John Rambo, und das ist gut so!
Diese kurzfristige Sicht, was Markteilnehmer heute fordern ist doch nur Geschwätz. Das kann negative Folgen haben, muss es aber nicht! Wir benötigen kein Selbstbewusstsein für Akteure, die auch nur Illusionen produzieren. Wir benötigen mehr produktiven Dissenz. Sollen die Briten doch beweisen, dass sie es besser können! Warum sollten wir den Akteuren im Finanzmarkt ein Selbstbewusstsein präsentieren, dass wir nicht brauchen. Was ist denn die qualitative und quantitative angemessene Reformation? Haben die Markteilnehmer eine Antwort darauf, hat irgendwer eine Antwort darauf?
Ich lehne mich entspannt zurück.. Was wir in den letzten 60 Jahren geschafft haben gibt Hoffnung für die Zukunft. Das Verhalten anderer gibt keinen sicheren Aufschluss darüber, ob wir die Zukunft meistern werden. Die Zukunft bleibt für alle ungewiss. Daran ändert Selbstbewusstsein gar nichts.
Gruß, David Marien
marien86
Juli 17, 2012 at 11:13 pm
Zur Schweiz,
nein, ich verfüge nicht über explizite Aussagen zum Verhandlungsprozess. Ich hab nur darauf hingewiesen, dass keiner von uns bei den Verhandlungen dabei war. Also kennen wir nicht die genaue Verhandlungsmasse, die Schweizer, Deutsche und US-Amerikaner besitzen. Wir kennen auch nicht die Kosten der entgangenen Alternative (Deutschland, hätte auf bestimmte Forderungen weiterhin bestanden -> Reaktion der Schweizer)
Die Unterstellung Deutsche hätten bestimmte Positionen nicht durchgesetzt bekommen, impliziert ihre Schwäche. Was rechtfertigt diese Implikation? Wir kennen doch gar keine Details!
Gruß, David Marien