Dieses Wochenende wählt NRW. Knapp 17,8 Millionen Menschen leben in dem Einwohner reichsten Bundesland. Jene, die wahlberechtigt sind, können nun wieder ihr Kreuzchen machen, um über die Parteien abzustimmen, welche die Politik in den nächsten 4 Jahre gestalten sollen. Aber ist damit genügend getan für die Beteiligung der Bürger an der Ausgestaltung der politischen Systeme?
Viele Menschen leben heutzutage mit dem Gefühl, dass sie zu wenig Einfluss auf die Politik nehmen können und dass ihr Kreuz bei der Wahl kaum noch einen Unterschied macht, weil sich die Parteien inhaltlich sehr stark ähneln. Manche Historiker und Politikwissenschaftler sprechen davon, dass wir eine Phase der Postdemokratie erleben und meinen damit, dass die Beteiligung der Bürger zu kurz kommt.
Aber wollen die Bürger sich überhaupt an der Politik beteiligen und zwar mehr, als es ihnen mit Landes- und Bundestagswahlen derzeit möglich ist?
Unterschiedliche Protestaktionen, wie die in Stuttgart stattfindenden Demonstrationen, scheinen Anzeichen dafür zu sein, dass die Menschen mehr Mitspracherechte einfordern. Der Zulauf von Wählern zu den Piraten weist auf den Unmut der Menschen darüber hin, dass die etablierten Parteien sich inhaltlich kaum noch voneinander unterscheiden lassen. Es dämmert die Zeit für mehr Bürgerbeteiligung.
Und es gibt bereits verschiedene Möglichkeiten, sich zu beteiligen. Man muss sich eben nur aufraffen und etwas tun.
Zum Beispiel kann man die eigene Sache, das eigene Anliegen, als Petition an den Deutschen Bundestag formulieren und sich Unterstützer suchen. Das geht sogar online über das Portal für E-Petitionen des Bundestags. Aber dies ist längst nicht die einzige Möglichkeit. Es gibt vielfältige Ansätze und neue Ideen, natürlich nicht nur in Deutschland.
Auf der Webseite www.participedia.net werden interessante Ideen zur Bürgerbeteiligung aus alles Welt gesammelt, kritisch erfasst und begleitet und miteinander verglichen. Es ist wie ein think tank, um die beste Ideen herauszufiltern. Wenn Ihr selbst Ideen habt und Euch beteiligen wollt bei der Umsetzung, dann meldet Euch dort.
Bürgerbeteiligung braucht aber auch klare Spielregeln, damit sie nicht zum unkoordinierten Chaos entartet oder anarchistische Züge gewinnt. Dazu gehört, dass man sich mit einer demokratisch gefassten Entscheidung abfinden muss, selbst wenn sie gegen die eigenen Wünsche ausfällt. In Stuttgart konnte man erleben, dass einige Menschen sich auch mit dem Ergebnis des Volksentscheids nicht abfinden wollten. Allerdings sind dies wenige Menschen.
Wer sich ernsthaft dafür interessiert sich als Bürger mehr an der politischen Gestaltung zu beteiligen, der findet in den „Handbüchern zur Bürgerbeteiligung“, die von den Bundesämtern für politische Bildung herausgegeben werden, viele nützliche Tipps. Anbei zwei Links:
http://www.participationinstitute.org/wp-content/uploads/2011/06/nanz_fritsche_expose_handbuch.pdf
http://www.b-b-e.de/fileadmin/inhalte/aktuelles/2010/06/nl11_buergerbeteiligung.pdf
Zum Schluss möchte ich Euch noch einen Radiopodcast zu diesem Thema empfehlen, in dem u.a. Patrizia Nanz, Mitautorin eines der Handbücher, als Gast spricht. WDR5: Postdemokratie: Was haben die Bürger noch zu sagen?
Redaktion
Mai 12, 2012 at 11:03 am
Hi Tinyentropy,
dein Bericht hat uns so gut gefallen, dass wir ihn mit „antizipierter Genehmigung“ in unser Blog aufgenommen haben.
Beste Grüße – und wen wählst du denn jetzt?
Team http://www.piratenlogger.de
marien86
Mai 12, 2012 at 1:33 pm
Hallo tinyentropy,
ich denke ein wichtiges Problem, dass viele Leute mit dem derzeitigen politischen System haben ist, dass sie sich immer mehr entfremdet werden, sie sich aber auch selbst entfremden, indem sie doch mit einem gewissen Lustgefühl von „denen da oben“ reden. Ich denke mein Artikel zur Entfremdung der Verwaltung zeigt sehr schön die Mechanismen auf die hier im Allgemeinen wirken
http://dmhdf.wordpress.com/2012/05/04/ministerien-was-machen-die-von-der-entfremdung-der-verwaltung/
Albert O. Hirschman hat schon vor über zwei Jahrzehnten in seinem Essay Shifting involvements: private interest and public action. 1982 (Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl. Suhrkamp, Frankfurt 1984, ISBN 3-518-57691-7) aufgezeigt, dass die Enttäuschung ein wichtiger Faktor für persönliches und gesellschaftliches Engagement ist. Er erklärt damit auch, warum Menschen im historischen Verlauf zwischen dem individuellen Bereich (Privatsphäre) und gemeinwohlorientierten Handeln hin- und her-pendeln.
Enttäuschung gepaart mit Entfremdung bietet einen hervorragenden Boden für die Postdemokratie. Man zieht sich ins persönliche zurück und überlässt das politische System sich selbst. Entscheidungen werden zwar formell demokratisch gefällt, die Entscheidungsfindung geschieht aber innerhalb einer informellen Machtstruktur statt, die von den Leuten geduldet wird.
Die Proteste in jüngster Zeit sowie das Aufkommen der Piratenpartei verdecken, dass eine Mehrheit der Leute dieses System duldet. Sie sind weder zufrieden damit, noch ist die Motivation groß genug es zu ändern. Sie arrangieren sich damit.
Die Frage ist, ist dieses Arrangement existenzgefährdend für unser politisches System? Meiner Meinung nach ist es das nicht. Es tritt zwar eine gewisse Stagnation ein, im Vergleich mit dem Mittelalter ist diese Stagnation rasender Fortschritt. Auch Bürgerbeteiligung bedarf einer gewissen Motivation. Aber auch sie wird uns weder von Enttäuschung noch vor Entfremdung bewahren. Wenn wir tausende maschinenlesbare Dokumente der Verwaltung zur Verfügung haben werden wir evtl. ein wenig mehr Verständnis über die Verwaltung haben, was gut ist, fremd bleiben wird sie uns weiterhin. Wenn wir uns engagieren, passiert es automatisch, dass gesetzte Erwartungen nicht eintreffen – wir werden enttäuscht.
Es geht, kurz gesagt, um die Minimierung von Enttäuschung, Entfremdung und von Postdemokratie. Bürgerbeteiligung schafft ein realistisches Verständnis, was möglich ist. Realität schafft aber selten Befriedigung. Deswegen hat der Mensch ja die Künste entwickelt. Das eine absolute Mehrheit der Leute auch weiterhin etablierte Parteien und deren Konzepte wählen werden zeigt doch, das man weiterhin die Lücke zu „denen da oben“ aufrecht erhalten möchte. Sie reduziert Enttäuschung und täuscht geringere Entfremdung vor.
Gruß, David Marien
tinyentropy
Mai 14, 2012 at 12:09 am
In dem Punkt sind wir uns dann einig, nämlich dass in unserer Gesellschaft eine ausreichende, kritische Masse von Menschen politisch interessiert und engagiert ist und man nicht schwarzsehen sollte. Und dies wird derzeit dadurch getragen, dass neue Parteien, die sich zu demokratischen Prinzipien bekennen, ihren Weg in die Landtage finden. Dies galt für die PDS, die Linke und jetzt die Piraten. Und es zeigt sich auch darin, dass die Politiker durchaus auf die Meinung des Volks reagieren. Manchmal allerdings schon zu sehr, wie im Falle des überhasteten Atomausstiegs.